In einer aktuellen Entscheidung vom heutigen Tage (Az. V ZR 77/22) hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit der Frage beschäftigt, ob ein Grundstücksverkäufer seine vorvertraglichen Aufklärungspflichten gegenüber dem Käufer durch das Einstellen entsprechender Unterlagen in einen virtuellen Datenraum (VDR) erfüllen kann. Diese Frage ist für Immobilientransaktionen höchst relevant; typische Fragen von Immobilienverkäufern an ihre Transaktionsanwälte im Vorfeld einer Beurkundung sind „Muss ich dieses Dokument in den VDR hochladen?“ und „Reicht es aus, wenn ich dieses Dokument schnell noch in den VDR hochlade?“.
Der Sachverhalt
In dem Fall des BGH (zu dem bislang nur die Pressemitteilung des BGH vorliegt) hat der Verkäufer drei Tage vor der Beurkundung des Kaufvertrags das Protokoll einer WEG-Versammlung in den VDR eingestellt, aus dem sich für den Käufer bei verständiger Betrachtung das Risiko einer Sonderumlage in Höhe von bis zu EUR 50 Mio. ergab – und das bei einem Kaufpreis von nur rund EUR 1,5 Mio. Der Käufer prüfte aber offenbar nicht mehr, ob kurz vor der Beurkundung weitere Unterlagen in den Datenraum eingestellt wurden (die Beurkundung war an einem Montagmorgen, das Protokoll wurde an dem vorangehenden Freitag hochgeladen), und ging – auch aufgrund weiterer Erklärungen des Verkäufers – davon aus, dass keine künftigen Sonderumlagen geplant seien. Nach Kaufpreiszahlung und Eigentumsumschreibung wurde der Käufer von der WEG auf Zahlung einer Umlage in Anspruch genommen.
Die Entscheidung des BGH
Der BGH hat hierzu entschieden (anders als die Vorinstanzen), dass der Verkäufer allein durch das Hochladen des Protokolls in den Datenraum seine vorvertraglichen Aufklärungspflichten nicht erfüllt hat. Daraus folgt ein Schadenersatzanspruch des Käufers aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 1, 241 Abs. 2 BGB, der bis 2002 nach altem Schuldrecht auch als culpa in contrahendo bekannt war und grundsätzlich auf Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichtet ist. Das bedeutet: Der Verkäufer muss den Kaufpreis zurückzahlen (Zug um Zug gegen Rückübereignung der Immobilie) und auch die weiteren Schäden ersetzen, die dem Käufer aufgrund der Pflichtverletzung entstanden sind (z.B. die Kosten der Finanzierung des Kaufpreises). Final muss hierüber noch das Berufungsgericht entscheiden; dabei müssen aber die rechtlichen Ausführungen des BGH beachtet werden, die als klarer Sieg für den Käufer zu verstehen sind. Für den Verkäufer hingegen dürfte dieser Deal in einem Desaster enden; der Pressemitteilung des BGH lässt sich nicht entnehmen, ob parallel auch ein Strafverfahren wegen Betrugs eingeleitet wurde.
Was hätte der Verkäufer nach Auffassung des BGH hier tun müssen, um seine Aufklärungspflicht zu erfüllen und Haftungsrisiken zu vermeiden? Der BGH stellt hierzu einige Grundsätze dar, die als Orientierung dienen können:
„Der Umstand allein, dass der Verkäufer einen Datenraum einrichtet und den Kaufinteressenten den Zugriff auf die Daten ermöglicht, lässt nicht stets den Schluss zu, dass der Käufer den offenbarungspflichtigen Umstand zur Kenntnis nehmen wird. Nur wenn im Einzelfall die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Käufer bestimmte, von dem Verkäufer in dem Datenraum bereit gestellte Informationen – etwa im Rahmen einer Due Diligence – wahrnehmen und in seine Kaufentscheidung einbeziehen wird, ist eine gesonderte Aufklärung durch den Verkäufer nicht erforderlich. Der Verkäufer eines bebauten Grundstücks, der dem Käufer Zugriff auf einen Datenraum mit Unterlagen und Informationen zu der Immobilie gewährt, erfüllt daher hierdurch seine Aufklärungspflicht nur, wenn und soweit er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird.”
zitiert nach https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/2023159.html?nn=10690868, abgerufen am 15.09.2023
Für den Einzelfall kommt es laut BGH unter anderem auf folgende Aspekte an:
- ob und in welchem Umfang der Käufer – wozu er von Gesetzes wegen nicht verpflichtet ist – eine Due Diligence durchführt,
- wie der Datenraum und der Zugriff hierauf strukturiert und organisiert sind,
- welche Vereinbarungen hierzu getroffen wurden,
- wie wichtig die Information ist, um deren Offenbarung es geht, und
- wie leicht sie im Datenraum aufzufinden ist.
Auswahl des Datenraumanbieters
Hier stellt sich auch die Frage, ob die Auswahl eines professionellen Datenraumbetreibers die Haftungsrisiken des Verkäufers reduzieren kann. Die entsprechenden Lösungen professioneller Anbieter bieten in aller Regel die Möglichkeit, den Kaufinteressenten automatisch über neu hochgeladene Dokumente zu informieren. Der Pressemitteilung des BGH lässt sich jedenfalls nicht entnehmen, dass der Käufer eine solche Mitteilung erhalten hätte; offen ist auch, ob dies aus Sicht des BGH allein schon ausgereicht hätte, um die begründete Erwartung des Verkäufers zu rechtfertigen, dass der Kaufinteressent das Dokument zu Kenntnis nehmen werde. Klar ist jedoch, dass der Verzicht auf einen professionellen Datenraum das Haftungsrisiko des Verkäufers erhöht.
Praxisfolgen
Was folgt daraus für die Praxis?
- Für den Käufer (potenziell) relevante Unterlagen müssen rechtzeitig, übersichtlich und vollständig so in den VDR eingestellt werden, dass der Verkäufer uneingeschränkt davon ausgehen kann, dass der Käufer diese zur Kenntnis nehmen wird – auch wenn er nicht gezielt auf der Suche nach dieser Information ist.
- Wenn Unterlagen kurz vor Beurkundung nachgereicht werden (was immer mal vorkommen kann), sollten der Käufer parallel proaktiv und nachweisbar auf diese Unterlagen hingewiesen werden. Dies kann z.B. in einer E-Mail geschehen. Alternativ kann auch im Kaufvertrag bestätigt werden, dass der Käufer die (konkret zu bezeichnenden) kurzfristig nachgereichten Unterlagen zur Kenntnis genommen hat.
- Sinnvoll ist in jedem Fall der Einsatz eines professionellen Datenraums, der den Käufer automatisch über neue Unterlagen informiert.
Kontakt:
Patrick Braasch
Counsel
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